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Priya Basil: Ein ›giftiges‹ Geschenk

Veranstaltungsdaten

Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender

Was?! Dieses „gift“ hätte ich niemals erwartet. Das lustigste und ehrlich gesagt auch das bei weitem zynischste Geburtstagsgift meines Lebens. „Gift“ bedeutet im Englischen etwas völlig anderes als im Deutschen: Mit einer rasanten Drehung bewegt sich das Wort von der einen zur anderen Sprache, von „Geschenk“ zu „Gift(stoff)“, und enthüllt dabei beide Seiten des Gebens. Schließlich haben viele Geschenke einen Haken, nur wenige sind gänzlich frei von Bedingungen. „Ich war mir nicht sicher, ob es dazu kommen würde, auch wenn sein Verhalten es nahegelegt hat, deswegen habe ich vorhin gesagt, ich hätte kein Geschenk für dich. Ich wollte schon aufgeben, aber gerade eben kam die Bestätigung. Offenbar ein milder Verlauf, aber immerhin!“ Die Erheiterung meiner Schwester saust durchs Telefon und überbrückt die Tausenden von Meilen, die zwischen uns liegen. Das, was sie – leitende Ärztin einer Praxis für eine Aborigines-Community im Westen Australiens – mir überreicht, hebt die Doppeldeutigkeit von „gift / Gift“ in ungeahnter Deutlichkeit hervor. Es ist ihr zweiter Anruf heute. Während des ersten kurz zuvor entschuldigte sie sich, dass sie es leider nicht geschafft habe, für mich etwas Besonderes zu arrangieren. „Zu viel Corona-Vorbereitung“, hatte sie gesagt.

Die Aborigines, die meine Schwester medizinisch versorgt, sind besonders gefährdet, weil viele von ihnen Vorerkrankungen haben, Diabetes etwa oder chronische Herzbeschwerden. Diese Krankheiten sind ein Erbe des Kolonialismus: Nachdem weiße Siedler sie ihres Landes beraubt, sie entrechtet und gezwungen hatten, ihre Regeln zu befolgen, konnten die Aborigines nicht mehr ihren Traditionen gemäß leben. Der Schaden war immens, und obwohl sich die Politik der australischen Regierung in Bezug auf die Aborigines inzwischen wandelt, bleiben doch Risse. Viele Aborigines sind noch heute von der jahrhundertelangen Misshandlung beeinflusst und geben sich Lebensgewohnheiten hin, die einen schlechten Gesundheitszustand noch verschlimmern. Für sie ist es daher sehr viel wahrscheinlicher als für nicht-indigene Australier, an einer gewöhnlichen Grippe so schwer zu erkranken, dass sie klinisch behandelt werden müssen. Für solche Gemeinschaften könnte das Coronavirus verheerend sein.

„Ich komme kaum zu etwas anderem“, hatte meine Schwester gesagt. „Selbst zuhause, nach Feierabend, sitze ich an Notfallplänen. Tut mir leid, Pri.“ Ich hatte Verständnis, auch wenn ich einen Anflug von Enttäuschung verspürte. Doch eigentlich erwartete ich zu diesem Zeitpunkt von niemandem ein Geschenk. Mein Vater hatte sogar vergessen, mir zu gratulieren: Weil das aber ein beinahe alljährliches Versäumnis ist, macht es mir nichts mehr aus. Doch hatte auch – zum allerersten Mal – meine Mutter nicht angerufen. Sie war seit drei Wochen völlig isoliert, daher hatte ich mir vorgestellt, dass ihr schlicht und einfach das Gefühl für die Zeit abhandengekommen war, von Daten ganz zu schweigen. Und auch für einige enge Freunde, die sonst immer daran gedacht hatten, dieses Mal aber nicht, schien sich die Zeit ähnlich verzerrt zu haben. Egal, meine Schwester plant, mich für all das zu entschädigen. „Erst ließ Schäfer BoJo die Herde wie üblich auf potentiell giftigen Wiesen grasen, solange sie nur etwas Abstand voneinander hielten. Dann aber kam er selbst ihnen ein wenig zu nahe und jetzt …“ „Er hat es!“, rufe ich dazwischen. „Happy Birthday to you!“, singt meine Schwester. Wir brechen beide in hysterisches Gelächter aus. Und werden dann genauso schnell wieder ernst. Schämen uns. Bis uns der Regierungsbeamte einfällt, der, anstatt Vorkehrungen zu treffen, angekündigt hatte, man werde im Hyde Park Zelte für die Toten aufstellen, für den Fall, dass die Leichenhallen nicht ausreichen.

Als BoJo im Krankenhaus landete, erschien mir nicht nur dieser Heiterkeitsanfall um so gefühlloser, sondern auch diese bereits geschriebene und eingereichte Geschichte. Lass uns noch warten, sagte ich zur Verlegerin, obwohl ich mich fragte: warten worauf? Verändert die Zeit die Fakten? Ändert sich alles, weil ein Leben in Gefahr ist? Mildert ein vorzeitiger Tod die Fehler eines jeden ab? Darf man wieder lachen, wenn der Politiker überlebt, bedeutet es, dass er dann nie wieder lügen wird?

Literatur in schwierigen Zeiten – muss sie sanfter oder härter sein? Beides? Weder noch? Vielleicht kann sie nur das tun, was sie schon immer getan hat: sich noch mehr um Wahrhaftigkeit bemühen, denn die Wahrheit zu kennen, ist immer ein Geschenk mit einem Haken.

In Present Times - Priya Basil

What?! It's a “gift” I never expected. The funniest and, frankly, also, by far, the most cynical birthday venom of my life. “Gift” has totally different meanings in English and German: the word takes a rapid twist as it moves between the languages, going from “present” to “poison”, exposing both sides of giving. After all, most gifts have barbs, few come unconditionally. “I wasn’t sure it would happen, even if his actions made it likely, that’s why I said before that I have nothing for you. I was about to give up, but I just got the confirmation. A mild version, apparently, but still!" My sister’s delight barrels down the phone, bridging the thousands of miles that separate us. With what she – a doctor heading a medical practice for an Aboriginal community in Western Australia – gives me, the ambiguity of “gift” is emphasized as never before. It is her second call today. During the first, a short while earlier, she apologized that she had, unfortunately, not managed to arrange anything special for me. “Too much Corona-prep,” she’d said.

The Aboriginal people for whom my sister helps provide medical care are especially vulnerable because many have underlying health-issues, including diabetes and chronic heart conditions. These illnesses are a legacy of colonialism: dispossessed of their land, separated from their families and forced to abide by the rules of white settlers, Aboriginal people were unable to maintain their traditional ways. The damage was immense and, even as Australian government policy towards Aboriginals has started to change, ruptures remain. Many Aboriginal people are still affected by the long history of mistreatment and make poor life choices that exacerbate bad health. Therefore, they are generally much more likely than non-indigenous Australians to get very sick from any flu and to need hospital treatment. The Coronavirus could be devastating for such communities.

“I haven’t had time for much else,” my sister had said. “Even when I get home from the clinic I’m working on emergency plans. Sorry, Pri.” I understood, even if I did feel a pang of disappointment. Though, actually, by that stage in the day, I didn't expect a gift from anybody. My father had forgotten even to wish me: since this is an almost annual aberration it no longer troubles. But – for the first time ever – my mother hadn’t called either. She had been in total isolation for three weeks, so I imagined she had simply lost track of days, let alone dates. I assumed time had similarly warped for some dear friends who always remembered but hadn’t this time. No matter, my sister intends to make up for it all. "First, shepherd BoJo let the herd keep grazing as usual in potentially poisonous meadows as long as they kept some distance from each other. But, he himself got a bit too close and now-" “He’s got it!” I butt in. “Happy Birthday to you!” My sister sings. We both dissolve into hysterics. And then, just as quickly, sober up. Ashamed. Until we remember that instead of taking precautions, one government official had announced that they would put up tents for the dead in Hyde Park in case the morgues couldn’t handle the bodies.

When BoJo ended up in hospital that fit of hilarity seemed all the more callous, as indeed did this story, already written and submitted. Let’s wait, I said to the publisher, even as I wondered: for what? Does time alter the facts? Does everything change because a life is under threat? Does untimely death mitigate anyone’s mistakes? Does survival make it okay to laugh again, will it mean the politician won’t lie again?

In tough times, must literature be kinder or harsher? Both? Neither? Maybe it can only do what it’s always done: try harder to be truer, knowing truth is always a barbed gift.

Priya Basil ist eine britisch-indische Schriftstellerin. Sie wuchs in Kenia auf, studierte in Großbritannien und lebt heute in Berlin. Ihre Romane wurden für zahlreiche Preise nominiert.
Ihr Essay „Gastfreundschaft“ erschien im Suhrkamp Verlag, ins Deutsche übertragen von Beatrice Fassbender.

Veranstaltungen der Reihe "Minutennovellen"

Miniaturen, Konzentrate, literarische Brühwürfel – zu lesen in nur einer Minute. Allerdings verbunden mit aufregenden Nach- und Nebenwirkungen. Autor*innen unseres Frühjahrsprogramms, deren Veranstaltungen im Stuttgarter Literaturhaus durch die Corona-Epidemie bedingt leider ausfallen, haben statt vor Publikum aus ihrem neuen Buch zu lesen, exklusive „Minutennovellen“ für Sie geschrieben. Jeden zweiten Tag - finden Sie ab jetzt Kürzesttexte auf unserer Website und auf Facebook, ergänzt um den Hinweis auf die Neuerscheinung der jeweiligen Autorin, des Autors – für alle weiteren Folgeminuten! Der Titel „Minutennovellen“ ist dem Band des ungarischen Schriftstellers István Örkény entlehnt (1912–1979, Übersetzung: Terézia Mora, Suhrkamp Verlag).