José F. A. Oliver: Hertha.
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Hertha war Trinkerin und ihr Name war ihr nicht besonders zärtlich. Ersteres sei nicht ungewöhnlich, meinte sie, und Zärtlichkeit nicht heilbar. Hertha liebte ihre Rituale. Zwei an der Zahl. Den Morgen. Den Abend. Danach war Trinken. Im Esszimmer hatte sie beizeiten eine Standuhr zur Ruhe gebracht. Fünf Uhr nachmittags. Die Stellung der Zeiger gefiel ihr. Kurz bevor es abends dämmerte, streichelte sie einen Läufer auf den Tisch, den sie morgens wieder zusammenlegte. Er war mit Vergissmeinnicht bestickt. Sie liebte die Farbe Blau und dachte dabei an seine Zärtlichkeit. Auch die Farbe Blau heilte nicht. Deshalb nannte sie das Vergissmeinnicht Trostjasmin. Morgens rollte sie den Blumenteppich wieder ein und überprüfte die Standhaftigkeit der Uhr. Auch die Stille der Uhr war seine Zärtlichkeit. Jemand hatte ihr gesagt: „Um fünf Uhr nachmittags. Der Tod kommt um fünf Uhr nachmittags.“ Sie wartete jeden Tag. Mit dem Aufleuchten der Dunkelheit trank sie eine Flasche Wein, manchmal zwei. Der Tod, sagte sie, sei nicht so laut, wenn die Uhr vorher schon stünde und das Vergissmeinnicht Trostjasmin hieße. So sprach sie alsbald zum leeren Stuhl, zum Tisch, zu den Wänden und gab ihnen Namen. Sie rief den Stuhl Hannes, den Tisch, die Wände. Hannes war längst verstorben. Sie widmete ihm jeden Abend die erste Flasche Wein und nannte die zweite irgendwann auch Hannes. Eins mit den Wänden, dem Tisch, dem leeren Stuhl. „Hannes, ich trinke dich“, sagte sie und war glücklich. In der Nacht, in der sie starb, erzählt man sich, habe sie zärtlich ein Glas Wein über den Trostjasmin gegossen und die Uhr noch einmal aufgezogen.
José F.A. Oliver, andalusischer Herkunft, wurde 1961 in Hausach im Schwarzwald geboren und lebt dort als freier Schriftsteller. Seine Gedichte sind in mehrere Sprachen übersetzt.