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Kerstin Preiwuß: Screenshot

Veranstaltungsdaten

Die Störche sind zurück. Die Kraniche sind zurück, aber sie bringen keinen Frühling, nur Panik. Soll man das Kind Corona nennen oder besser Covid? Sich paaren bedeutet man darf zu zweit draußen Zeit verbringen. Bleiben Sie gesund ist der neue Gruß. Er kommt schnell und fügt sich. Man soll sich selbst so verhalten als wäre man inmitten. Geschlossene ehemals glückliche Rudel ziehen Kreise um den eigenen Dunst. Die Wege dünnen sich aus und verwandeln sich in Rillen. Die Kinder zwitschern und machen alles mit. Am besten blähst du deine Backen und hamsterst jetzt, das ist wie Nüsse knacken, das gibt Emofett. Wir sperren unsere Seelen auf wie Rachen von Kuckuckskindern, gebt uns Wärme, Menschen, Licht, wir werden sonst rachitisch! Das dehnt sich zur Würgeschlange und lässt uns zittern um die erschöpfte Amsel, die gerade ihre Zukunft verliert. Die kostenlosen Angebote blühen wie Kirschen. Das Netz glüht und windet sich zur Schlange. Die Sirenen klingen nicht mehr auf der Straße. Die Bäume entfalten sich stoisch, die Knospen senden weiße Signale; Glasfaserknospen als einziger Lichtblick und alle Hormone feuern, hier ein Bruchstück, da ein Trieb, als würden Glühwürmchen tagsüber leuchten und die ganze Welt beugt sich Covid. Das Wasser wird klar, die Luft sauber, das Geld knapp, der Streit schlimm, die Erschöpfung groß, die Verzweiflung wächst, die Knospen senden SOS. Man kennt die Angst nicht mehr, man hat sie sich immer nur vorgestellt. Wir gewöhnen uns ans Verharren. Kinder gelten als Überbringer. Am Tag danach wirkt jeder Tag wie ungeschehen. Wir geben alles aus der Hand und ermahnen uns dazu. Für die Katastrophe, die noch kommt, verhalten wir uns erwartbar, und wir eilen ihr entgegen. Man sollte sich jetzt nicht trennen. April ist the cruelest month, das spürt jeder.

Kerstin Preiwuß, geboren 1980 in Lübz, Mecklenburg, lebt in Leipzig. Ihr zweiter Gedichtband „Rede“ wurde von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in die Liste der Lyrikempfehlungen des Jahres aufgenommen. Zuletzt erhielt sie den Lyrikpreis Meran 2018.

Veranstaltungen der Reihe "Minutennovellen"

Miniaturen, Konzentrate, literarische Brühwürfel – zu lesen in nur einer Minute. Allerdings verbunden mit aufregenden Nach- und Nebenwirkungen. Autor*innen unseres Frühjahrsprogramms, deren Veranstaltungen im Stuttgarter Literaturhaus durch die Corona-Epidemie bedingt leider ausfallen, haben statt vor Publikum aus ihrem neuen Buch zu lesen, exklusive „Minutennovellen“ für Sie geschrieben. Jeden zweiten Tag - finden Sie ab jetzt Kürzesttexte auf unserer Website und auf Facebook, ergänzt um den Hinweis auf die Neuerscheinung der jeweiligen Autorin, des Autors – für alle weiteren Folgeminuten! Der Titel „Minutennovellen“ ist dem Band des ungarischen Schriftstellers István Örkény entlehnt (1912–1979, Übersetzung: Terézia Mora, Suhrkamp Verlag).