Zum Hauptinhalt springen
6.6.2019

Empfindsamkeiten & Archäologie untergegangener Welten: Jáchym Topol, Serhij Zhadan, Karl Schlögel, Christian Neef

Veranstaltungsdaten

19.00 – 20.15 Uhr
Empfindsamkeiten
Jachym Topol und Serhij Zhadan
Moderation: Helmut Böttiger
Deutsche Lesung: Eva Profousova

Als „politischer Gegenwartsroman“ wurde Jachym Topols neuer Roman in Tschechien gefeiert, der nun unter dem Titel „Ein empfindsamer Mensch“ in der Übersetzung von Eva Profousova auf Deutsch erschienen ist. Angesiedelt im Jahr 2015 nimmt er eine heutige Vermessung Europas vor und verknüpft sie mit Elementen einer Road-Novel, die ihn bis ins russisch-ukrainische Kriegsgebiet fuhrt. Mit ihm spricht der ukrainische Lyriker, Romanautor und Musiker Serhij Zhadan. Sein jüngster Roman „Internat“ handelt ebenfalls vom russisch-ukrainischen Krieg und wurde 2018 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse (Übersetzung) ausgezeichnet, ins Deutsche übertragen von Sabine Stör und Juri Durkot. In eindringlichen Bildern erzählt Serhij Zhadan, wie sich eine vertraute Umgebung in unheimliches Terrain verwandelt: Ein junger Lehrer will seinen 13-jahrigen Neffen aus dem Internat am anderen Ende der Stadt nach Hause holen; die Schule ist unter Beschuss geraten und bietet keine Sicherheit mehr. Doch durch den Ort zu kommen, in dem das zivile Leben zusammengebrochen ist, wird zur Prüfung.

Jáchym Topol, geboren 1962 in Prag, war nicht nur der Star des literarischen und musikalischen Undergrounds vor 1989 sondern ist auch heute noch der bekannteste tschechische Autor seiner Generation. Als Sechzehnjähriger unterzeichnete er die Charta 77, 1985 begründete er das Underground-Magazin »Revolver Revue«. 1988 erschien in Samisdat sein erster Gedichtband »Ich liebe Dich bis zum Irrsinn«. Seinen auch internationalen Durchbruch als Schriftsteller hatte er mit dem Roman »Die Schwester«. Er lebt in Prag. Serhij Zhadan, 1974 im Gebiet Luhansk, Ostukraine, geboren, gehört seit 1991 zu den prägendsten Autoren der ukrainischen Literaturlandschaft. Er publizierte zahlreiche Gedicht- und Prosabände. Seinen mehrfach ausgezeichneten Roman »Die Erfindung des Jazz im Donbass« kürte die BBC zum »Buch des Jahrzehnts«. Serhiy Zhadan lebt in Charkiw, Ostukraine.

Kurze Pause

20.30 – 21.45 Uhr
Archäologie untergegangener Welten
Karl Schlögel und Christian Neef
Moderation: Manfred Sapper

Der Spiegel-Korrespondent und Russlandkenner Christian Neef fächert in seinem neuen Buch „Der Trompeter von Sankt Petersburg“ die Saga vor uns auf: Einst war Sankt Petersburg eine schillernde Metropole und fünftgrößte Stadt der Welt, in der auch viele deutsche Monarchen, Unternehmer und Künstler der Stadt an der Newa ihr Gesicht gaben. Mit der Revolution 1917 und Stalins Herrschaft fand diese Zeit ihr Ende. Neef erzählt die Geschichte der Stadt am Beispiel von vier Lebensgeschichten, unter anderem des Trompeters Oskar Bohme, der von Stalins Geheimpolizei erschossen wurde und der Familie des Schauspielers Armin Muller-Stahl. Mit ihm ins Gespräch kommt der Preisträger des Leipziger Buchpreises 2018 in der Kategorie Sachbuch, Karl Schlögel. Der große Osteuropa-Historiker lädt mit seiner Archäologie des Kommunismus zu einer Neuvermessung der sowjetischen Welt ein. Jedes Imperium hat seinen Sound, seinen Rhythmus, der auch dann noch fortlebt, wenn das Reich aufgehört hat zu existieren. So entsteht, hundert Jahre nach der Revolution von 1917 und ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Sowjetunion, das Panorama eines einzigartigen Imperiums, ohne dass wir „die Zeit danach“, in der wir heute leben, nicht verstehen. In allem – ob im Mobiliar, im Duft des Parfums oder der Stimme des Radiosprechers – hat das „Zeitalter der Extreme“ seine Spur hinterlassen.

Gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung und in Zusammenarbeit mit dem Haus der Heimat Baden-Württemberg.

Veranstaltungen der Reihe ""Etwas in der Sprache ging kaputt, knackte wie das Eis auf dem Stausee im März." Ukraine & Russland. Literaturen, Politiken und Perspektiven"

Lesungen und Gespräche | April – Juli 2019
Ukraine & Russland. Literaturen, Politiken und Perspektiven

„Denn die Politik tritt in dein Leben, auch wenn du dich nicht für sie interessierst: Der Krieg kommt in
dein Dorf.“ Serhij Zhadan

Vor fünf Jahren hat das Stuttgarter Literaturhaus die friedlichen Proteste auf dem Kiewer Maidan und die eskalierende Entwicklung nur wenige Monate später zum Anlass seiner literarischen Reihe „Rebellen“ genommen, in der Literatur als Visionsraum in Prozessen gesellschaftlichen Umbruchs befragt wurde. In der Zwischenzeit wurde die Krim von Russland annektiert und in der Ostukraine begann ein blutiger Krieg mit Millionen Binnenflüchtlingen und vielen getöteten Menschen, ohne Aussicht auf ein baldiges Ende. In einer Politik der Verunsicherung und in einem Klima tiefgreifenden Misstrauens wurden und werden in Russland Künstler und Intellektuelle unter Druck gesetzt. Wir haben es mit einem Krieg in Europa zu tun, der nach einer kurzen Phase medialer Aufmerksamkeit nur allzu rasch wieder aus dem Blickfeld geriet. Zugleich haben wir es in nahezu allen europäischen Ländern mit dem Erstarken des Rechtspopulismus’ zu tun, mit der Aushöhlung von Demokratie. Wichtige Scharnierstelle in dieser Gemengelage ist die Sprache, sind die Worte. Literatur bildet einen Ort der Mehrdeutigkeiten, die wir im alltäglichen Schlagabtausch oftmals nicht auszuhalten bereit sind.
„Etwas in der Sprache ging kaputt, knackte wie das Eis auf dem Stausee im März und würde jeden Moment in unzählige schwere, scharfe Stücke brechen“, schreibt Serhij Zhadan in seinem jüngsten Roman „Internat“, für den er 2018 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung ausgezeichnet wurde. Das Knacken des Eises, die schweren scharfen brechenden Stücke aus Zhadans Literatur setzen wir in dieser neuen Veranstaltungsreihe im Stuttgarter Literaturhaus in einen politischen und gesellschaftlichen Resonanzraum. Denn: Unter dem Eis auf dem Stausee im März wartet Leben.

30.4.2019
Vortrag und Gespräch
5 Bilder
4.4.2019
Lesung und Gespräch
3 Bilder
dichterlesen.net