Utopien, Erinnerungen, Raum und Zeit

Lesung, Gespräch & Konzert

Tomer Dotan-Dreyfus, Gabriela Adameșteanu, Anja Utler, Andrij Ljubka, Jaroslav Rudiš

Literaturhaus Stuttgart
11.7.2024 / 18:00 Uhr

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Mein Souvenir ist eine Zeitschrift aus Birobidschan aus den 70ern – zumindest ein paar Seiten daraus, denn sie ist sehr wertvoll. Sie heißt »Sovetisch Heymland«, ist auf Jiddisch und enthält Gedichte und Artikel über den Alltag in Birobidschan. Ich habe sie vor einigen Jahren auf einem Flohmarkt gefunden, als ich schon an meinem Buch »Birobidschan« geschrieben habe. Wenn man die Zeitschrift online kauft, kostet sie wirklich viel, tausendmal mehr als das, für was sie der Verkäufer auf dem Flohmarkt angeboten hat. Ich glaube, er konnte sie nicht lesen und somit die historische Bedeutung dieses Dokuments nicht wirklich verstehen.
Tomer Dotan-Dreyfus
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Ich habe ein Kinderkleidchen mitgebracht, das in den 50ern für mich gekauft wurde. Besticktes Leinen aus einer Stadt im südlichen Rumänien, nördlich von Bukarest. Ich habe meine Kindheit und Jugend in einer Stadt verbracht, von der ich dachte, dort würde nie etwas passieren. Als ich zum Studium in die Hauptstadt ging, war ich überzeugt, dass ich aus der langweiligsten Stadt wegziehe. Erst später habe ich erfahren, dass in dieser langweiligen Stadt etwas verborgen war, was ich vorher nicht kannte, das grauenvollste Gefängnis im kommunistischen Rumänien, das Gefängnis in Piteşti. Dort waren vor allem Jugendliche eingesperrt, die sich gegen das kommunistische System gewandt hatten. Ein schrecklicher Ort, an dem sich die Gefangenen gegenseitig folterten und dafür belohnt wurden. Und das Sonderbare ist, dass diese Erinnerungen der 50er sich überblenden, das unschuldige Kinderkleid und die Nähe dieses Gefängnisses.
Gabriela Adameşteanu
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Ich habe ein klassisches Souvenir dabei: eine kleine Muschel von der Dingle-Halbinsel in Irland. Ich saß oft beim Schreiben an meinem Schreibtisch und habe die Muschel mit dem Zeigefinger hin und her geschoben, wenn ich mit dem Briefwechsel nicht weiterkam. Ich war so eingesponnen in meine Gedanken, dass ich mich irgendwann gefragt habe, woher dieses unerträgliche Geräusch kommt – es kam von der Bewegung, die ich mit der Muschel machte. Der andere Grund, warum ich dieses Souvenir mitgebracht habe, ist, dass uns auf der Halbinsel immer wieder Menschen aus der Ukraine begegnet sind, die irische Symbole an sich trugen. Das hat mich in zweierlei Hinsicht beeindruckt. Einerseits, wie sich dieses Verbrechen in Wellen über den ganzen Kontinent fortpflanzt und überall spürbar ist. Und andererseits, dass die Iren wahnsinnig stolz sein können, wenn sie die Geflohenen so aufnehmen, dass diese sich nach kürzester Zeit Kleeblätter anheften.
Anja Utler
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Im Frühjahr 2022 bin ich das erste Mal im Zuge humanitärer Hilfe nach Charkiw gekommen. Dort habe ich ein Emblem bekommen, auf dem »Puppenverteidigung« steht. Ich habe mich damals mit Leuten aus künstlerischen Kreisen getroffen, die in der Stadt bleiben und sie verteidigen wollten, eine eigene Einheit, die sich rund um den Künstler Serhij Zhadan formiert hat. Aber wir wurden nicht aufgenommen, weil die Offiziere der Armee sagten, dass mit uns nichts anzufangen sei, dass wir nicht kämpfen könnten und wieder gehen sollten. Trotzdem haben wir die Stadt nicht verlassen und uns fortan im städtischen Puppentheater versammelt. Und deswegen ist dieser Aufnäher mit der Losung »Puppenverteidigung« kein Symbol einer echten Verteidigung, aber trotzdem eines für einen Widerstand, der für uns wichtig war.
Andrij Ljubka
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Eigentlich wollte ich eines meiner Kursbücher mitbringen, die wichtiger Teil meiner Bibliothek sind. Aber dann habe ich mich doch für dieses Buch entschieden: »Baedekers Oesterreich-Ungarn« von 1913, der letzte Reiseführer für die untergegangene Monarchie. Ein Jahr später war alles schon vorbei – oder anders. Ich nehme dieses Buch immer mit, wenn ich durch Mitteleuropa reise. Auch darin stehen Zugverbindungen. Und man lernt verschiedene Sprachen: Ungarisch, Tschechisch, Bosnisch, Serbokroatisch. Das Buch spielt auch eine wichtige Rolle in meinem Roman »Winterbergs letzte Reise«, und ich habe darin natürlich auch nach der Stadt »Uschhorod« gesucht. Es gibt nicht viel dazu: 16.900 Einwohner, 132 Meter über dem Meer, Gasthaus Bercsényi, Fiaker zur Stadt eine Krone zwanzig. Heute hat Uschhorod über hunderttausend Einwohner und ist eine recht große Stadt, direkt an der slowakischen Grenze. Hier in diesem Reiseführer schon mal verewigt.
Jaroslav Rudiš
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Dieses Kleid stammt aus den 90er Jahren, eine sehr bewegte Zeit in Georgien, in der mein Vater seine Arbeit als Fabrikdirektor verlor. Eine Zeit lang waren meine Schwester und ich die Einzigen in der Familie, die etwas Geld verdienten, indem wir in einem 5-Sterne-Hotel in Tiflis Musik machten. Eigentlich konnte ich mir das Kleid nicht leisten, aber als ich es in einem Laden sah, hat es mich sehr an die Musik erinnert, die ich damals gehört habe: Sinéad O´Connor, Kate Bush, Laurie Anderson und schwedische Rockbands. Ich habe es bei meinem ersten Konzert getragen, bei dem ich als Sängerin aufgetreten bin. Es war für mich ein Symbol für dieses Anderswo, für diese andere Welt, wo diese Musik herkam. Heute steht dieses Kleid für mich sinnbildlich für die damalige Zeit und ihre Widersprüchlichkeit, eine Zeit, die voll war mit finsteren und kriminellen Geschichten, aber auch mit Magie, Poesie und Aufbruchsstimmung.
Russudan Meipariani

Ein Souvenir für Dich: Über einen Zeitraum von nahezu zwei Jahren haben über 60 Autor:innen aus Mittel-, Süd- und Osteuropa in elf Literaturhäusern nicht nur ihre aktuellen Texte vorgestellt, sondern darüber hinaus ein Souvenir mitgebracht. Diese persönlichen wie originellen Andenken stellen eine Verbindung her zwischen ihrem Schreiben, den Herkunftsgeschichten sowie den geographischen und kulturellen Räumen, die sie geprägt haben. Jedes Souvenir wurde dabei von Ekaterina Zershchikova fotografisch in Szene gesetzt; eine Auswahl ihrer Bilder ist bis Ende des Jahres im Foyer Literaturhauses zu sehen. Darüber hinaus setzen wir die Souvenirs selbst in Szene; nahezu alle Andenken sind an diesem Abend im Original zu sehen. Im Herbst erscheinen sie, ergänzt um kurze Erläuterungen der Autor:innen, im SHIFT BOOKS Verlag für Kunst- und Fotobücher – und sollten Sie nicht warten können: Der digitale Setzkasten zeigt sie schon jetzt unter literaturhaus-stuttgart.de Unter dem Titel »Utopien, Erinnerungen, Raum und Zeit« schließen wir die Reihe mit einem langen Abend und fünf Autor:innen ab; er endet musikalisch mit der in Stuttgart lebenden georgischen Komponistin, Pianistin und Sängerin Russudan Meipariani – auch sie wird ein Souvenir mitbringen.

18:00 – 18:40 Uhr 
»Birobidschan« von Tomer Dotan-Dreyfus 
Moderation: Schamma Schahadat 

In »Birobidschan« erzählt Tomer Dotan-Dreyfus die so unwahrscheinliche wie charmante Geschichte eines jüdisch-sozialistischen Schtetls in Sibirien und knüpft damit an jiddische Erzähltraditionen und den magischen Realismus an. Tomer Dotan-Dreyfus, 1987 in Haifa geboren, lebt seit zehn Jahren in Berlin und ist als freier Autor, Lyriker und Übersetzer tätig. Er schreibt sowohl in hebräischer als auch in deutscher Sprache.  

18:45 – 19:25 Uhr
»Der Trevi-Brunnen« von Gabriela Adameşteanu (dt.: Eva Ruth Wemme)
Moderation: Claudia Dathe  

Gabriela Adameşteanu erzählt in unterhaltsamer Selbstbeobachtung ihrer hellsichtigen Hauptfigur eine Chronik von fünfzig Jahren rumänischer Geschichte und entwirft ein atmosphärisches Panorama von Bukarest. Gabriela Adameşteanu, geboren 1942, gehört als Schriftstellerin und Publizistin zu den bedeutendsten Stimmen der rumänischen Literatur der Gegenwart. 

19:40 – 20:00 Uhr Pause mit Snacks und Getränken 

20:05 – 20:45 Uhr
Briefwechsel »Fragile« zwischen Anja Utler und Andrij Ljubka 
Moderation: Schamma Schahadat 

Wie aus der Zeit gefallen und doch höchst gegenwärtig: Briefe entblättern sich langsam und sind intim, erlauben es, sich Zeit zu nehmen und zuzuhören. Anja Utler und Andrij Ljubka haben sich über  mehrere Monate hinweg Briefe geschrieben zur Frage »FRAGILE: Was ist so kostbar, dass es geschützt werden muss? Was droht zu zerbrechen?« Andrij Ljubka, geboren 1987 in Riga, ist ukrainischer Schriftsteller, Übersetzer und Dichter; er lebt mit seiner Familie in Uschhorod, Ukraine. Anja Utler, geboren 1973 in Schwandorf, arbeitet als Lyrikerin, Essayistin und Übersetzerin und lebt in Leipzig. In diesem Jahr wurde ihr der Peter-Huchel-Preis für »Es beginnt. Trauerrefrain« zuerkannt. 

Die Lesung »Fragile« findet statt im Austausch zwischen deutscher und ukrainischer Buch- und Literaturbranche, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, durchgeführt vom Goethe-Institut, Börsenverein des Deutschen Buchhandels und Ukrainischen Buchinstitut  

20:50 – 21:30 Uhr   
»Auf den Schienen: Erinnerungen, Orte, Raum und Zeit« mit Jaroslav Rudiš 
Moderation: Claudia Dathe 

Jaroslav Rudiš erkundet seit vielen Jahren eisenbahnfahrend und zweisprachig schreibend den mitteleuropäischen Raum. Im abschließenden Gespräch mit Lesung begeben wir uns mit ihm anhand der Souvenirs zu Orten und Momenten persönlicher Erinnerung, folgen Brüchen und Höhepunkten und entdecken europäische Geschichte. 

Konzert 
21:30 – 22:00 Uhr
»Voices & Mountains« von Russudan Meipariani 

Die aus Tbilisi stammende und in Stuttgart lebende Komponistin, Pianistin und Sängerin Russudan Meipariani verbindet die Tradition georgischer Mehrstimmigkeit mit Klassik, postminimalistischen Strukturen und Elementen der Popmusik. Ihr Soloauftritt präsentiert neue experimentelle Klanglandschaften aus ihrem aktuellen Album »Voices & Mountains«: dunkle, archaische Klänge eines georgischen Männerchors treffen auf Elektronik und Russudans Stimme.

Weitere Info

Veranstalter: Literaturhaus Stuttgart

Copyright Foto Souvenir: Ekaterina Zershchikova