Eva Viežnaviec

Lesung und Gespräch

Eva Viežnaviec

Literarisches Colloquium Berlin
15.5.2024 / 19:30 Uhr

dekorativ
Auf belarussisch nennt man mich »Zigaretten-Stummel« oder »verbrannter Baumstamm«. In beiden Familienlinien komme ich aus einem Dorf, das von den Nazis niedergebrannt wurde. Meine Großmutter kroch aus einer brennenden Scheune, legte sich in eine Pfütze und stellte sich tot. Diese Ikone, die ich mitgebracht habe, hat ebenfalls in einer Pfütze überlebt. Es ist das einzige Vermächtnis meiner Familie, das älter ist als der Zweite Weltkrieg. Für mich bedeutet dieses Bild, dass ich nicht zu viele Dinge brauche: Ich habe nur einen Sohn, nur eine Katze, nur einen Gott und nur ein Zuhause. Als ich von Belarus nach Polen ging, gab mir meine Mutter diese Ikone, was mich sehr glücklich machte. Denn seit meiner Kindheit habe ich mich daran gewöhnt, unter dem Licht dieser großen, schönen, göttlichen Augen aufzuwachen. Auf der Ikone steht: »Kommt zu mir, alle, die ihr am Ende seid, abgearbeitet und mutlos: ich will euch Erholung und neue Kraft schenken.« (Matthäus, 11:28)
Eva Viežnaviec

Dieser Abend setzt die ›Souvenir‹-Reihe fort, in der wir mittel- und osteuropäische Autor·innen nach einem ›Souvenir‹ fragen, einem Begleitstück ihres Schreibens, einer materialisierten Erinnerung.

Für die belarusische Autorin Eva Viežnaviec ist das eine kleine Ikone, ein Erbstück ihrer Großmutter. Was es mit dieser Ikone auf sich hat, wird an diesem Abend zu besprechen sein, genauso wie der Roman der Autorin, der unter dem Titel »Was suchst du, Wolf?« (aus dem Belarusischen von Tina Wünschmann, Zsolnay, 2023) erschienen ist. Er erzählt die Geschichte von Ryna, einer Trinkerin, die in Darmstadt arbeitet und für die Beerdigung ihrer Großmutter in ihr belarusisches Heimatdorf zurückkehrt. Auf kunstvolle Weise wird dabei eine Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts miterzählt und einer ganzen Generation von Frauen ein Denkmal gesetzt: denen, die daran geglaubt haben, dass das Leben weitergehen wird, selbst auf verbrannter Erde.

Den Abend moderiert der Kulturwissenschaftler und Historiker Felix Ackermann, das Gespräch übersetzt Margarita Höckner, aus der Übersetzung liest Nina West. 

 

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Veranstalter: Literarisches Colloquium Berlin

Copyright Foto Souvenir: Ekaterina Zershchikova