Verpuppt

Lesung und Gespräch

Ana Marwan, Elke Schmitter

Literarisches Zentrum Göttingen
20.2.2024 / 20:00 Uhr

dekorativ
Es war einmal Sommer und die Ziegel auf unserem Dach wurden getauscht. Dabei wurde auf dem Dach dieses Pferdchen gefunden. Der Sommer war heiß und die Arbeit schwer. Es wurde alles von oben herab in die Tonnen geworfen, nur dieses Pferd wortlos auf den Gartentisch gelegt, als wäre es wiedergefunden oder wertvoll oder beides. Mich hat diese wohlwollende fremde Einschätzung, die der Hitze und der Hässlichkeit des Pferdes trotzte, berührt. Ja, an diesem Pferd schätze ich am Meisten, dass es jemand für behaltenswert hielt, und um dieses Gefühl zu ehren, war ich auch bereit, es als behaltenswert zu sehen. Wir sind seitdem achtmal umgezogen und das Pferd kam immer mit. Allmählich ist es mir so ans Herz gewachsen, dass es nicht mehr als Symbol für etwas steht — es hat einen Wert auch an sich bekommen. Ich merke, ich sage „an sich“, obwohl ich eigentlich „für mich“ meine. Optisch erinnert es mich an Zeichnungen aus einem beliebten slowenischen Kinderbuch, das übersetzt vielleicht „Kartoffelpferde“ hieße. Es ging darum, dass Kinder als Spielzeug aus Kartoffeln geschnitzte Figuren bekamen, die jedoch schließlich aufgrund der Armut der Menschen gekocht und gegessen werden mussten. Solche Armutsgeschichten, die uns zum Weinen brachten, waren damals sehr beliebt. So wie ich mir oft vorstelle, wie mein Hund ausgesehen haben müsste, als er noch ein Welpe war, oder meine Freunde, als sie klein waren, stelle ich mir dieses Pferd in dem Zustand vor, als es noch neu war. Vielleicht hatte er ursprünglich ein rosarotes Plüschfell. Vielleicht hätte es mir neu gar nicht so gefallen wie jetzt, denke ich mir.
Ana Marwan

Der neue Roman der Bachmann-Preisträgerin Ana Marwan schillert und vibriert, arbeitet sich an der Psychologie des Menschen und zugleich an ihrer Sprache ab – was bleibt, ist die Verwirrung über das Leben und diese oft so skurrilen Begegnungen. Rita scheint sich schon in jungen Jahren im Leben nicht zurechtzufinden, ihre Mutter schickt sie in eine Psychiatrie. Dort lernt sie einen deutlich älteren Mann kennen, der der Komplexität des Lebens auf besondere Art begegnet und der sie zu verstehen scheint. Verpuppt (Otto Müller 2023) ist ein Text über das Erwachsenwerden, verhängnisvolle Bekanntschaften und eine Hommage an jegliche Formen von Imagination. Ein Abend über die Verpuppungen des Lebens mit Elke Schmitter.

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Veranstalter: Literarisches Zentrum Göttingen

Copyright Foto Souvenir: Ekaterina Zershchikova