Katarína Kucbelová und Tatiana Țîbuleac im Gespräch mit ihren Übersetzer:innen

Lesung und Gespräch

Katarína Kucbelová, Tatiana Țîbuleac

Literarisches Colloquium Berlin
4.12.2023 / 19:30 Uhr

dekorativ
Dieses nicht eindeutig zu bestimmende Stück einer Haube ist ein Teil der slowakischen Tracht. Von wem es gestickt wurde, weiß ich nicht. Ich habe es bekommen und behalten, weil es ein Teil von etwas Größerem ist und gleichzeitig die Gedanken spiegelt, die bei stundenlanger Arbeit durch die Nadel fließen. So etwas wirft man nicht weg, man könnte es nochmals verwenden. Das gefällt mir, so kommt ein neuer Blick hinein, neues Leben. Weil ich bei meiner Arbeit an der »Haube« viel über das Leben einer Frau erfahren habe, die 1938 geboren wurde, ist gleichzeitig auch ein Buch entstanden. Diese Arbeit hieß für mich, an Geschichte teilzunehmen und sie aus weiblicher Perspektive umzudeuten. Das alles dank einer generationsübergreifenden Begegnung. Es war, wie einen alten Haubenteil in einer neuen Haube zu verwenden, das Alte in etwas Neues einzugliedern. Sich erinnern und weitergehen. Nicht konservieren, leben lassen. Und zwar freier.
Katarína Kucbelová
dekorativ
Mutter ist im Winter geboren, in Sibirien. Sie lag in Filz eingewickelt auf der Sitzbank und war sterbenskrank. Die Kinder der Deportierten bekamen keinen Arztbesuch, Medikamente gab es keine. Mit einem Mal ging die Barackentür auf, und die Postbotin kam mit einem Paket aus Moldowa zur Tür herein. Es war das erste und einzige Paket, das meine Großeltern in den sieben Jahren ihres Exils im Gulag bekamen. Darin befanden sich sechs Äpfel aus dem beschlagnahmten Garten der Großeltern. Die Postbotin verlangte einen für ihre Tochter, worauf meine Großmutter zur Antwort gab, sie würde ihr alle geben, wenn sie ihr helfe, das Kind vor dem Tode zu retten. In einem Monat wird Mutter siebzig Jahre alt werden. Sie isst immer noch jeden Tag Äpfel. Meine Großeltern haben sie Vera getauft, was auf Russisch Vertrauen heißt. Vertrauen in eine bessere Welt, in die Menschen und in die Geschenke des Lebens, die uns dann erreichen, wenn alles verloren scheint.
Tatiana Țîbuleac

Die Autor:innen mit ihren Übersetzer:innen Eva Profousová und Ernest Wichner in Lesung und Gespräch

Von den Zwängen und Repressionen, denen Frauen in patriarchalisch und autoritär geprägten Systemen ausgesetzt sind, erzählen zwei aktuelle, in viele Sprachen übersetzte Romane aus Mittel- und Osteuropa. »Die Haube« (Übersetzt von Eva Profousová, INK PRESS, 2023) der slowakischen Autorin Katarína Kucbelová ist eine Expedition in eine entlegene Dorfgesellschaft und die Biografie einer Frau, die das für sie vorgesehene archaische Lebensmodell nie durchbrechen konnte. Die Heldin in Tatiana Țîbuleacs Roman »Der Garten aus Glas« (aus dem Rumänischen von Ernest Wichner, Schöffling & Co., 2023) dagegen hat sich im postsowjetischen Moldawien von der Flaschensammlerin zur Chefärztin hochgearbeitet, in einer Gesellschaft, in der Menschlichkeit nicht vorgesehen ist. Der Abend setzt die ›Souvenir‹-Reihe fort, in der wir mittel- und osteuropäische Autor:innen nach einem ›Souvenir‹ fragen, einem Begleitstück ihres Schreibens, einer materialisierten Erinnerung.

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Veranstalter: Literarisches Colloquium Berlin

Copyright Foto Souvenir: Ekaterina Zershchikova