Katarína Kucbelová und Tatiana Țîbuleac im Gesprächmit ihren Übersetzer:innen

Lesung und Gespräch

Katarína Kucbelová, Tatiana Țîbuleac

Literarisches Colloquium Berlin
4.12.2023 / 19:30 Uhr

dekorativ
Dieses nicht eindeutig zu bestimmende Stück einer Haube ist ein Teil der slowakischen Tracht. Es stammt aus der Gemeinde Šumiac, die zu einer Mikroregion gehört und von drei unter einem Berg liegenden Dörfern gebildet wird. Jener Berg namens Kraľova hoľa markiert das Ende des Gebirgszugs Nízké Tatry. Die drei Dörfer tragen die Namen Šumiac, Telgárt und Vernár. Die Region heißt Horehronie. Sie liegt in der Mittelslowakei. Die Slowakei verbarg sich bis vor Kurzem in der Bezeichnung eines Landes namens Tschechoslowakei. Sie ist in einer Region verankert, die sich Mitteleuropa nennt, und Mitteleuropa ist für viele wiederum mit Osteuropa identisch. Seit zwanzig Jahren lernen die Menschen in der Slowakei, dass sie ein Teil des gesamten und nicht nur des östlichen Europas sind, denn ihr Land ist der Europäischen Union beigetreten. Schlagen Sie diese Orte ruhig einmal im Atlas nach. Beim Sticken spielen Details eine große Rolle und dasselbe gilt auch für Landkarten. Weil ich bei meiner Arbeit an der Haube viel über das Leben einer Frau erfahren habe, die 1938 geboren wurde, ist gleichzeitig auch ein Buch entstanden. Im Laufe unserer Sitzungen trat peu à peu die Geschichte in den Vordergrund, und zwar nicht nur die ihre, sie schälte sich aus dem Schweigen heraus, das unsere Arbeit begleitete. Schweigen stellte sich als die beste Methode dar. Zudem in der Geschichte die Grenzen verloren gingen und viele Menschen sich mit der Frau zu identifizieren begannen, ohne den Ursprungsort ihrer Geschichte zu kennen. Von wem dieser Teil der Tracht gestickt wurde, weiß ich nicht, ich habe ihn bekommen und behalten, weil er ein Teil von etwas Größerem ist und gleichzeitig die Gedanken spiegelt, die bei stundenlanger Arbeit durch die Nadel fließen. So etwas wirft man nicht weg, man könnte es nochmals verwenden. Das gefällt mir, so kommt ein neuer Blick hinein, neues Leben. Die Arbeit an der Haube, sowohl der gedruckten wie auch der gestickten, hieß für mich an Geschichte teilzunehmen und sie aus weiblicher Perspektive umzudeuten, das alles dank einer generationsübergreifenden Begegnung. Es war wie einen alten Haubenteil in einer neuen Haube zu verwenden, das Alte in etwas Neues einzugliedern. Sich erinnern und weiter gehen. Nicht konservieren, leben lassen. Und zwar freier. Aus dem Slowakischen von Eva Profousová.
Katarína Kucbelová
dekorativ
Vera und die Äpfel Vor zwei Monaten bin ich mit meiner Familie umgezogen in ein altes Haus in einer französischen Kleinstadt. Das Haus hatte einige Reparaturen nötig, und im Garten mussten ein paar tote Bäume gefällt und ersetzt werden. Eine Magnolie, ein Olivenbaum, ein Bananenbaum – der Gärtner war mit großen Plänen und einer Liste mit exotischen Bäumen angerückt, die geeignet war, unser bescheidenes Anwesen vornehmer zu gestalten. Ich habe ihm aufmerksam zugehört, ihn aber zum Schluss beschieden mit: ein Apfelbaum, wir werden hier einen Apfelbaum pflanzen. Seitdem ich mich erinnern kann, gab es in unserem Haus Äpfel. Wir aßen sie grün oder reif, mitsamt Schale und Körnern, machten Kompott und Mus daraus, legten sie für den Winter ein, bezahlten Schulden mit den Äpfeln und erwarben uns mit ihrer Hilfe neue Freunde. Auch wenn wir nichts anderes im Hause hatten, hatten wir Äpfel, und das genügte. Manchmal kommt es mir so vor, dass meine DNA nach so vielen verzehrten Äpfeln Schaden genommen hat, und dass für Menschen wie mich das Paradies gewiss ein Obstgarten mit blühenden Apfelbäumen sein wird. Aber ich will nicht zu weit, also geradewegs auf den Tod zu gehen, denn diese Geschichte beginnt am genau entgegengesetzten Ende, sie beginnt mit dem Leben. Mutter ist im Winter geboren, in Sibirien. Großmutter hat sich lange gequält, sie nicht zu gebären, aber Mutter wollte leben, und zwar stärker als alle anderen Leute ringsum. Und da gab es ringsum viele Leute, sie waren aufgrund von irgendwelchen Listen dorthin gelangt, auf denen stand, sie seien alle Volksfeinde. Mutter lag in Filz eingewickelt auf der Sitzbank und war sterbenskrank. Die Kinder der Deportierten bekamen keinen Arztbesuch, Medikamente gab es keine, der Winter hatte eben erst begonnen. Mit einem Mal (und ich erinnere mich noch gut an dieses „mit einem Mal“ aus Großmutters Erzählung), ging die Barackentür auf und die Postbotin kam mit einem Paket aus Moldowa zur Tür herein. Es war das erste und einzige Paket, das meine Großeltern in den sieben Jahren ihres Exils im Gulag bekamen. Darin befanden sich sechs Äpfel aus dem beschlagnahmten Garten der Großeltern, gepflückt und geschickt hatte sie eine zu Hause gebliebene Nachbarin. Es scheint so (ich erinnere mich auch an dieses „es scheint so“ recht gut), als ob die Postbotin bis dahin noch keine moldawischen Äpfel gesehen hatte, aber sie verlangte einen für ihre Tochter. Worauf meine Großmutter, die nun nichts mehr zu verlieren hatte, zur Antwort gab, sie würde ihr alle geben, wenn sie ihr helfe, das Kind vor dem Tode zu retten. Dreimal kam die Postbotin in die Baracke der Deportierten. Sechs Äpfel, jedes Mal zwei, hat Großmutter ihr als Gegenleistung für die Medikamente gegeben. In einem Monat wird Mutter siebzig Jahre alt werden. Sie isst immer noch jeden Tag Äpfel. Meine Großeltern haben sie Vera getauft, was auf Russisch Vertrauen heißt. Vertrauen in eine bessere Welt, in die Menschen und in die Geschenke des Lebens, die uns dann erreichen, wenn alles verloren scheint. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner.
Tatiana Țîbuleac

Die Autor∙innen mit ihren Übersetzer∙innen Eva Profousová und Ernest Wichner in Lesung und Gespräch

Von den Zwängen und Repressionen, denen Frauen in patriarchalisch und autoritär geprägten Systemen ausgesetzt sind, erzählen zwei aktuelle, in viele Sprachen übersetzte Romane aus Mittel- und Osteuropa. »Die Haube« (Übersetzt von Eva Profousová, INK PRESS, 2023) der slowakischen Autorin Katarína Kucbelová ist eine Expedition in eine entlegene Dorfgesellschaft und die Biografie einer Frau, die das für sie vorgesehene archaische Lebensmodell nie durchbrechen konnte. Die Heldin in Tatiana Țîbuleacs Roman »Der Garten aus Glas« (aus dem Rumänischen von Ernest Wichner, Schöffling & Co., 2023) dagegen hat sich im postsowjetischen Moldawien von der Flaschensammlerin zur Chefärztin hochgearbeitet, in einer Gesellschaft, in der Menschlichkeit nicht vorgesehen ist. Der Abend setzt die ›Souvenir‹-Reihe fort, in der wir mittel- und osteuropäische Autor·innen nach einem ›Souvenir‹ fragen, einem Begleitstück ihres Schreibens, einer materialisierten Erinnerung.

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Veranstalter: Literarisches Colloquium Berlin

Copyright Foto Souvenir: Ekaterina Zershchikova