Bitternis

Lesung und Gespräch

Joanna Bator

Literarisches Colloquium Berlin
2.11.2023 / 19:30 Uhr

dekorativ
Mein Souvenir stammt von einem traurigen Ort. Aber widerspricht das nicht eigentlich der Logik, sollte ein Souvenir nicht an glückliche Momente erinnern, an die man gerne zurückdenkt, die man sich mittels eines realen und greifbaren Erinnerungsstücks bewahren möchte? Ich musste diesen Sommer an mein Punschgefäß denken, als ich im Zagreber Museum of Broken Relationships war und mir die verschiedenen Objekte ansah, die dort abgegeben worden sind, weil die gute Beziehung, für die sie standen, nicht mehr existiert und das Erinnerungsstück damit seine Berechtigung als solches verloren hat. Mein Souvenir steht symbolisch für ein ganzes Leben, das in einem Haus seinen Anfang genommen hat, in dem alle Verbindungen durchtrennt oder zerstört waren. Und es verbindet mich seit einem halben Jahrhundert auf eine Weise mit jenem traurigen Ort, die es mir erlaubt, meine Geschichte neu zu erzählen. Ich habe das Gefäß aus dem Haus meiner Großeltern väterlicherseits mitgenommen, bei denen ich meine ersten sechs Lebensjahre verbracht habe. Sie wohnten in Wałbrzych, im Stadtteil Nowe Miasto, weit hinten am Rand in einem schäbigen, ärmlichen Haus direkt an der Ausfallstraße. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte es sie hierher verschlagen, nachdem sie an ihrem ursprünglichen Wohnort in Zentralpolen alles verloren hatten, und sie besaßen nie viel mehr als ihre vier Kinder und die Last ihrer Traumata. In Wałbrzych übernahmen sie eine Wohnung, in der zuvor Deutsche gelebt hatten: zwei Zimmer, eine Küche mit Speisekammer, ein Bad mit einer Junkers-Gastherme, die röchelte wie ein Kettenraucher. Auch ihre Möbel hatten die Deutschen dagelassen, unter anderem ein großes ausgebeultes Sofa mit braunem Bezug, der sich anfühlte wie Fell. Und einen riesigen, tiefen Schrank, in dem meine Großmutter einen Sack Zucker aufbewahrte, falls wir einmal Hunger leiden müssten oder der nächste Krieg ausbrechen sollte – obwohl ich jetzt, nach all den Jahren, eher vermute, dass der Zucker zum Schnapsbrennen diente: Mein Großvater und einige andere Familienmitglieder, die auch in dem Haus wohnten, sprachen übermäßig dem Alkohol zu. Möbel, Besteck, Teller, Dosen mit deutscher Beschriftung – all das konnte im Alltag gut gebraucht werden. Bis auf das Punschgefäß. Bei dem obendrein der Schöpflöffel fehlte, allerdings könnte der in der Suppen-Fleisch-Kartoffel-Küche meiner Großmutter anderweitig Verwendung gefunden haben. Das bauchige gläserne Punschgefäß an sich aber war ein merkwürdiges Ding, weder Fisch noch Fleisch. Es war weder zu irgendetwas nütze noch konnte es als Ziergegenstand durchgehen, den man sich ins Regal stellte wie ein Hirtenmädchen aus Porzellan. Und daher kam es in das kleinere Zimmer, in dem ich mit meiner Großmutter schlief. Das einsame Kind, das ich in meinen ersten sechs Lebensjahren war, faszinierte dieses ehemals deutsche Gefäß für Punsch, den niemand in meiner Familie jemals trank. Ich behütete das Punschgefäß und gab ihm ein Leben, indem ich seine geheime Bestimmung zu erraten versuchte. Meine erste Erinnerung sind die bunten Stoffreste, die eine Schneiderin aus unserem Haus mir zum Spielen gab. Mein Gedächtnis hat auch ihren lustigen Nachnamen gespeichert – Mleczko, „Milchchen“. Später zog ich von meinen Großeltern in die Wohnblocksiedlung Piaskowa Góra – „Sandberg“ – um, wo meine Eltern eine Wohnung bekommen hatten. Dort hatte ich mein eigenes Zimmer, und dorthin nahm ich auch die Punchvase mit, als einziges Erinnerungsstück an die sechs Jahre bei meinen Großeltern. Längere Zeit diente mir das Gefäß als Aquarium, ich hatte Guppys, Skalare und Algenfresser, die mich am meisten faszinierten und die unermüdlich mit ihren beweglichen Mäulchen die Scheiben des Gefäßes putzten. Nach den Fischen zog eine weiße Maus in das Punschgefäß ein – ich durfte nur Tiere besitzen, deren Radius sich auf mein Zimmer beschränkte und die weiter keine Probleme bereiteten. Nach einiger Zeit hielt ich keine Kleintiere mehr; nun sorgte die Punschvase für romantische Stimmung: Ich stellte eine Kerze hinein, deren Schein meine Gespräche über den Sinn des Lebens und später, als ich auf dem Lyzeum war, meine ersten Verabredungen mit Jungs begleitete. Kurz darauf brach mein Souvenir mit mir auf in die weite Welt, erst nach Wrocław, dann nach Warschau. Gefüllt mit Postkarten, Potpourris oder Nüssen erwartete es mich, wenn ich abends in meine jeweiligen Wohnungen zurückkam, die Basis meiner verschiedenen Stipendien und Verträge in anderen Ländern. Immer stand es an einem Ehrenplatz, und nie schien es so recht zufrieden mit der Füllung seines Bauches zu sein. Als ich einmal nicht da war, stieß jemand das Gefäß um, und nun zeichnet eine hässliche Narbe seine vollkommene Gestalt. Warum schleppe ich dich bloß überallhin mit? Du bist wahrlich nicht besonders hübsch, habe ich schon manchmal gemurrt, wenn mein Blick auf das Punschgefäß fiel, das sich zunehmend von den anderen, schönen, mit Bedacht ausgewählten Gegenständen abhob, mit denen ich meine Wohnungen ausstattete. Eines Tages, als ich mit meinem ersten Roman Sandberg im Gepäck aus Tokio zurückkam, wurde mir klar, dass der Bauch dieser gläsernen Punchvase, die irgendeine Deutsche in der Wałbrzycher Wohnung in der Hitlerstraße zurückgelassen hatte – dass der Bauch dieses merkwürdigen Souvenirs, das mich mit meiner traurigen Kindheit unter gebeutelten Polen und Waldenburgs deutschen Geistern verbindet, voller deutsch-polnischer Geschichten steckt, die nur darauf warten, dass ich sie befreie. Die Erzählerin von Bitternis, Kalina, die in einem Dorf nahe Wałbrzych auf die Spur ihrer deutschen Großmutter Berta Koch stößt, ist sich dessen voll und ganz bewusst. Was mich veranlasst hat, dieses Souvenir zu bewahren, war nicht der Wunsch, es zu besitzen, sondern die Sorge für einen Teil meines Erbes, der sonst vielleicht verblasst und in Vergessenheit geraten wäre. Und in symbolischem Sinne bringe ich diese mit Erzählungen über unsere gemeinsame niederschlesische Geschichte gefüllte Punschvase nun wieder mit nach Deutschland. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes.
Joanna Bator

Joanna Bators neuer Roman »Bitternis« (Suhrkamp, aus dem Polnischen übersetzt von Lisa Palmes, 2023) erzählt von weiblichen Lebensentwürfen – und wie sie scheitern. Im drängenden, sarkastischen, an Elfriede Jelinek erinnernden Ton entfaltet die Autorin eine deutsch-polnische Familiengeschichte und das Drama der zornigen Frauen, die ihr Geheimnis durch die Generationen weitergegeben haben. Krieg, Gewalt und privates Unglück brachten die Bitternis hervor, aus deren Bannkreis erst die Jüngste, Kalina, heraustritt, indem sie davon erzählt. Mit Macht fordert sie das Glück ein, das den Frauen ihrer Familie versagt war. Der Abend setzt die ›Souvenir‹-Reihe fort, in der wir mittel- und osteuropäische Autor∙innen nach einem ›Souvenir‹ fragen, einem Begleitstück ihres Schreibens, einer materialisierten Erinnerung.

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Veranstalter: Literarisches Colloquium Berlin

Copyright Foto Souvenir: Ekaterina Zershchikova