Waben der Worte: Slowenische Literatur

Lesungen und Gespräche

Drago Jančar, Mojca Kumerdej, Aleš Šteger

Literaturhaus Stuttgart
26.10.2023 / 19:30 Uhr

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Ei Als du´s am Pfannenrand erschlägst, bemerkst du nicht, Daß dem Ei im Tod ein Auge wächst. So winzig ist es, daß es keinen noch so Leichten Morgenappetit befriedigt. Schon starrt´s, schon stiert´s in deine Welt. Wie sehen seine Horizonte aus, in wessen Perspektive? Sieht es die Zeit, die teilnahmslos umherzieht? Schlitz, Schlitz, zerplatzte Schalen, Chaos oder Ordnung? Große Fragen für ein kleines Ei Zu solcher frühen Stunde. Und du – wünscht du dir wirklich eine Antwort? Setzt ihr euch, Aug in Auge, an den Tisch Löschst du sein Augenlicht früh genug mit einem Stückchen Brot. Übersetzung von Matthias Göritz aus: Buch der Dinge Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006
Aleš Šteger
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Diese Schachtel habe ich von meiner ungarischen Übersetzerin im Jahr 1991 erhalten. Das waren die Jahre, in denen man in Deutschland die Berliner Mauer auseinandergenommen und jeder sich ein Stück mitgenommen hat. Ungarn war aber von Stacheldraht und Minenfeldern umgeben, und dieser Stacheldraht hat es in Ungarn verhindert, aus diesem glücklichen, sozialistischen Land zu fliehen. Mein Souvenir ist ein Stück von diesem Stacheldraht; das hat man damals auseinandergeschnitten und mit der ungarischen Flagge unterlegt und verkauft. Meine ungarische Übersetzerin hat mir das mit großer Freude geschenkt. Nun gibt es keinen Stacheldraht zwischen Ungarn und Slowenien, die Grenzen sind offen, und man kann durch ganz Europa reisen. Aber mich hat der schriftstellerischer Teufel besessen, und ich habe eine Kurzgeschichte dazu geschrieben. Ich habe mir vorgestellt, dass es in Budapest einen Vater und einen Sohn gibt, die ihren Stacheldraht in der Fabrik produzieren, in Stücke schneiden und an Touristen verkaufen. Die Geschichte spielt im Jahr 1992 und dann sagte der Sohn in der Geschichte zum Vater, jetzt kommen die Amerikaner und andere Touristen, die interessieren sich nicht mehr für unseren Stacheldraht, was sollen wir tun, damit unser Business weiterläuft? Und dann sagt der Vater, „weißt Du, ich lebe schon so lange, ich bin mir sicher, dass wir diesen Stacheldraht noch im Ganzen verkaufen werden, nicht geschnitten in Stücken.“ Einige Jahre später, 2015, habe ich gesehen, wie Ungarn wieder seine Grenzen mit Stacheldraht gesichert hat, dieses Mal aber, damit andere Menschen, Migranten, nicht nach Ungarn kommen können. Und jetzt warte ich darauf, dass dieser Stacheldraht an der Grenze erneut zerschnitten und als Souvenir verkauft wird.
Drago Jancar
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Mein Souvenir ist eine Flasche Wasser. Die Idee dazu entstand im August, als Slowenien von einer Flutwelle erfasst wurde, die viel Zerstörung anrichtete. In Slowenien gab es Bergretter, Sanitäter, Feuerwehr, die alle sofort geholfen haben. Kurz darauf gab es die Brände in Hawaii, dort gab es diese Infrastruktur und diese Dienste aber nicht, und die Folgen waren viel verheerender. Fluten wie diese geschehen in Slowenien alle hundert Jahre, aber die letzte war auch eine Folge des Klimawandels. Schon vor Jahren habe ich über das Wasser geschrieben. Das Wasser wird wegen Wassermangel und Dürre immer wertvoller; so kommt es auch zu Migrationswellen, so dass Menschen zunehmend in Gegenden ziehen, wo es Wasser gibt. Ungefähr 80% unseres Körpers besteht aus Wasser, und die Menschheit kann ohne Wasser nicht überleben. Dennoch lebt eine Milliarde Menschen ohne zuverlässigen Zugang zu Trinkwasser. Der Grund dafür liegt auch in der Privatisierung des Wassers durch Konzerne, die den Einheimischen den Zugang zu ihren Wasserquellen versperren. Das andere ist meine persönliche Beziehung zum Wasser, sei es als Meer, als See aber auch als Sprache. Ich begreife Texte als etwas Synästhetisches, Fluides. Ich kenne für jede Geschichte, für meinen Roman die Temperatur dieses Stoffes. Mir gefällt die Metapher des Wassers in all seinen Zuständen. Beim Schreiben habe ich zunächst eine Idee, noch vor der Bedeutung hab ich eine Vorahnung, wie eine Vibration, und ich bin sehr froh, wenn es zu einer Flutwelle der Sprache kommt. Und ich wohne zudem auch an einem See, da geh ich immer schwimmen, pro Sommer schwimme ich ca. 100 km. Diese Flasche hier stammt aus meinem Heimatort, ich habe sie im Bauernverband gekauft. Das Wasser aber stammt aus dem Starnberger See, an dem ich jetzt 3 Monate lebe, ich habe dort eine Residenz in der Villa Waldberta. Und dort war ich gestern mit meiner Kollegin bei nur 15 Grad schwimmen, und so kam ich auf die Idee, dieses lebendige Wasser mit Mikroorganismen und allem drin hier als Souvenir nach Stuttgart zu bringen.
Mojca Kumerdej

Drei herausragende slowenische Autor:innen bringen ihre Texte und ein Souvenir mit nach Stuttgart:
Drago Jančars neuer Roman „Als die Welt entstand“ ist nicht nur ein großer Roman über die Widersprüche der slowenischen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg und das Aufwachsen in Zeiten des Umbruchs, sondern auch ein beeindruckendes Porträt Maribors der 1950er Jahre. Drago Jančar, geboren 1948 in Maribor, lebt in Ljubljana und gilt als einer der bedeutendsten Autoren seines Landes.
In Mojca Kumerdejs Erzählband „Unter den Oberflächen“, erschienen im Wallstein Verlag, lauern mitunter dunkle, beängstigende Dinge: Mit feinem Gespür schildert Kumerdej die Innenwelt ihrer Figuren, die Beweggründe für ihr Verhalten, die Schrecken und Träume – nicht ohne Humor. Mojca Kumerdej, geboren 1964, ist Autorin, Philosophin und Journalistin.
Aleš Šteger, 1973 in Ptuj geboren, lebt heute in Ljubljana. In diesem Jahr legt er nicht nur den neuen Gedichtband „Atemprotokolle“ vor (Wallstein Verlag), ein Zeugnis einer Reise ins Innere, sondern auch den Band „Ljubljana und Slowenien. Eine literarische Einladung“ über den bekanntesten Geheimtipp Europas (Wagenbach Verlag). Im Karl Rauch Verlag erschien seine Erzählung „Als der Winter verschwand“, bei Wallstein in diesem Herbst zudem die Erzählungen „Das Lachen der Götter“.
Drago Jančar, Mojca Kumerdej und Aleš Šteger bringen über ihre Texte hinaus ein Souvenir, ein Andenken mit, das eine Verbindung herstellt zwischen ihrem Schreiben, den Herkunfts- und Familienbeziehungen, den Sprachen, Rissen und Kreuzungspunkten im Leben. Damit reihen sie sich ein in das Format „Souvenir. Andenken und Literaturen aus Mittel- und Osteuropa“, das Autor:innen aus diesen Ländern bis Ende 2023 in elf Literaturhäusern in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf die Bühne bringt.

Ein Projekt des Literaturhauses Stuttgart und der Projektgruppe für Mittel-, Ost- und Südosteuropa der Bundeszentrale für politische Bildung, in Kooperation mit dem Netzwerk der Literaturhäuser und mit freundlicher Unterstützung der Ernst Klett AG, der Slowenischen Buchagentur und dem Slowenischen Kulturinformationszentrum SKICA Berlin.

Lesungen und Gespräche
Amalija Maček (Moderation)
Schamma Schahadat (Moderation)

Weitere Info

Veranstalter: Literaturhaus Stuttgart

Copyright Foto Souvenir: Ekaterina Zershchikova