Herkunft schreiben

Lesungen und Gespräche

Ana Marwan, Ivana Sajko, Ivna Žic

Literaturhaus Stuttgart
21.4.2023 / 19:30 Uhr

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Dieses Buch wurde von meiner Großmutter gebunden, die nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Druckerei arbeitete. Obwohl sie nur wenige Jahre zur Schule gegangen ist, hat sie immer gelesen. Am meisten liebte sie Marija Jurić Zagorka. Zagorka war die erste kroatische Journalistin, aber da ihre männlichen Kollegen sie nie als ebenbürtig anerkannten, schrieb sie historische Liebesromane, die in Tageszeitungen veröffentlicht wurden. Meine Großmutter hat all diese Fortsetzungen in einem Buch zusammengefasst. Dies ist eines dieser Bücher. Es verbindet zwei Frauen, die keinen Zugang zur Literatur hatten, aber so die Möglichkeit hatten, symbolisch in sie einzutreten.
Ivana Sajko
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Das ist ein echtes Souvenir: Ein Herz, auf dem Zagreb steht, das sogenannte Licitar-Herz, ein Lebkuchenherz. Ich bin da vom Klischee ausgegangen, weil es so ein typisches Souvenir aus Zagreb ist. Es gibt das Herz mit dem Wort »Zagreb«, aber ebenso mit den Namen anderer Orte. Auch wenn das Objekt auf den ersten Blick kitschig sein mag, hat es eine persönliche Geschichte: Meine Mutter schenkt uns diese Herzen immer wieder und total gerne. Sie sind etwas, das mich ganz fest an Familie bindet. Jedes Jahr bekomme ich so ein Herz, inzwischen habe ich eine ganze Sammlung davon, und sie erinnern mich immer ganz konkret an meine Mutter.
Ivna Žic
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Einmal wurden in einem Sommer Ziegel auf unserem Dach getauscht. Dabei wurde dieses Pferdchen gefunden. Der Sommer war heiß und die Arbeit schwer. Es wurde alles von oben herab in die Tonnen geworfen, nur dieses Pferd wurde wortlos auf den Gartentisch gelegt, als wäre es wiedergefunden oder wertvoll oder beides. Mich hat diese wohlwollende fremde Einschätzung, die der Hitze und der Hässlichkeit des Pferdes trotzte, berührt. Ja, an diesem Pferd schätze ich am meisten, dass es jemand für behaltenswert hielt, und um dieses Gefühl zu ehren, war auch ich bereit, es als behaltenswert zu sehen. Wir sind seitdem achtmal umgezogen und das Pferd kam immer mit. Allmählich ist es mir so ans Herz gewachsen, dass es nicht mehr als Symbol für etwas steht — es hat einen Wert an sich bekommen. Ich merke, ich sage »an sich«, obwohl ich eigentlich »für mich« meine.
Ana Marwan

»Herkunftssache« – unter diesem Titel hat das Literaturhaus Stuttgart 2017 kulturelle und soziale Herkünfte in einem mehrtägigen Festival literarisch befragt. Die literarische Ausleuchtung von Herkunft und Zukunft hat in den letzten Jahren weiter Fahrt aufgenommen und ist auch für die drei Autorinnen der nächsten Folge in der Reihe »Souvenir« wichtig, wenn sie uns mitnehmen nach Südosteuropa: Die 1980 geborene slowenische Schriftstellerin Ana Marwan erzählt in ihrem Roman »Verpuppt« (dt. Klaus Detlef Olof) von der jungen Rita, die sich im Stadium einer Verpuppung von einer Jugendlichen zur Frau befindet auf der Suche nach der Person, in die sie sich einmal verwandeln könnte. Das Mittel zur Selbstfindung ist das Schreiben, so soll sie z.B. über den wesentlich älteren Herrn Jež, eine Art Seelenverwandter, schreiben.
In Ivana Sajkos neuer Erzählung »Jeder Aufbruch ist ein kleiner Tod« (dt. Alida Bremer), erzählt ein Schriftsteller auf der Reise von der südlichen Küste Europas nach Berlin eine Geschichte über Grenzen, über die Unmöglichkeit eines erfüllten Lebens und gesellschaftlichen Aufstiegs – und über die Hoffnung, diese doch zu erreichen. Ivana Sajko, 1975 in Zagreb/Kroatien geboren, ist Schriftstellerin, Theaterregisseurin und Performerin; 2018 wurde sie für »Liebesroman« mit dem Internationalen Preis des Hauses der Kulturen der Welt ausgezeichnet.
Unter dem Titel »Wahrscheinliche Herkünfte« öffnet Ivna Žic in ihrer autofiktionalen Reflexion Zugänge zu den völlig unterschiedlichen Welten ihrer beiden Großmütter und des schweigsamen Großvaters. In ihren Leben spiegelt sich ein untergegangenes Europa, das dennoch ausstrahlt bis in die Gegenwart. Ivna Žic, 1986 in Zagreb, Kroatien, geboren, aufgewachsen in Zürich, arbeitet als freie Autorin, Dozentin und Regisseurin und erhielt für ihre Texte eine Vielzahl von Stipendien und Preisen. Sie lebt in Zürich und Wien.
Ana Marvan, Ivana Sajko und Ivna Zic bringen über ihre Texte hinaus ein Souvenir, ein Andenken mit, das eine Verbindung herstellt zwischen Ihrem Schreiben, den Herkunfts- und Familienbeziehungen, den Sprachen, Rissen und Kreuzungspunkten im Leben. Damit reihen sie sich ein in das Format »Souvenir. Andenken und Literaturen aus Mittel- und Osteuropa«, das Autor:innen aus diesen Ländern bis Ende 2023 in elf Literaturhäusern in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf die Bühne bringt.

Ein Projekt des Literaturhaus Stuttgart und der Projektgruppe für Mittel-, Ost- und Südosteuropa der Bundeszentrale für politische Bildung, in Kooperation mit dem Netzwerk der Literaturhäuser und mit freundlicher Unterstützung der Ernst Klett AG.

Schamma Schahadat (Moderation)

Weitere Info

Veranstalter: Literaturhaus Stuttgart

Copyright Foto Souvenir: Ekaterina Zershchikova