Ukraine im Krieg – ein Jahr später

Lesung und Gespräch

Oxana Matiychuk, Claudia Dathe, Kateryna Mishchenko

Literaturhaus Stuttgart
24.3.2023 / 19:30 Uhr

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Mein Souvenir besteht eigentlich aus zwei Teilen. Eine zu etwa zweidrittel abgebrannte Kerze, die habe ich vor ein paar Jahren zum Geburtstag bekommen. Ich habe sie ganz wenig genutzt, aber in diesem Winter haben wir neben Generatoren und Powerstations eben Kerzen verstärkt gebraucht. Fast immer bleibt ein größerer oder kleinerer Kerzenstummel übrig. Und diese werden in der Ukraine nicht etwa weggeworfen, sondern für etwas ganz Anderes verwendet: Denn das hier ist auch eine Kerze – aber für die Schützengräben. Diese Kerzen werden von Frauen gemacht, in Teams oder auch selbständig. Diese hier wurde von der Gattin unseres Leiters der Abteilung Rechnungswesen hergestellt. Er wurde vor ca. genau einem Monat mobilisiert, ist nicht direkt als Soldat im Einsatz, aber in einer Militärbehörde tätig.
Oxana Matiychuk
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Für diese Kerzen benötigt man kleine oder auch große Metalldosen z.B. von Tierfutter, die werden dann durchgeschnitten. Und man benötigt eben Pappe und Reste von Paraffin oder Wachskerzen. Diese werden flüssiggemacht, die dünnen Streifen dann gefaltet und das flüssige Wachs in die Dose gegossen. Eine Kerze dieser Größe brennt vier bis acht Stunden, größere brennen bis zu zwölf Stunden. Diese Kerzen geben viel mehr Licht und Wärme, und man kann sich z.B. über diesen Kerzen auch etwas warm machen. Und man hat in Schützengräben, wo normalerweise gar keine Sonne hineinscheint, auf diese Weise auch ein bisschen Licht. Ich hoffe, dass diese Souvenire bald der Vergangenheit angehören, aber zurzeit ist es so, dass wir noch ganz viele machen müssen.
Oxana Matiychuk
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Meine Arbeit sind tatsächlich die Texte, also hab‘ ich als Souvenir auch einen Text mitgebracht. Ich habe das Kinderbuch „Als der Krieg nach Rondo kam“ mitgebracht. Einerseits zeigt es, dass wir in unserem Innersten den Kindern eigentlich den Krieg ersparen wollen. Und in jedem von uns ist diese Angst vor der Gewalt mit drin, wie sie ein Kind empfindet. Und trotzdem ist unsere Welt so, dass wir den Kindern den Krieg erklären müssen. Ich übersetze in der Regel allein, aber das Buch habe ich zusammen mit Oksana Semenets übersetzt, eine Frau aus Kiew, die in den ersten Kriegstagen geflohen ist, eine Freundin von mir, wir haben das zusammen übersetzt, weil es mir wichtig war, dass sie nicht nur hier in Deutschland ankommt und einen Platz findet, sondern dass sie auch selbst aktiv werden kann. Und das Buch ist auch deshalb für mich so wichtig, weil es ein Stück weit den Weg aufzeigt, den einen Teil meiner Mitstreiterinnen und Mitstreiter im Verlagswesen in der Zeit gegangen sind; also es ist kein Geheimnis, dass die ukrainische Literatur selbst nach 2014 nicht besonders präsent war, und dass sich viele Verlage sehr schwer getan haben, ukrainische Autoren ins Programm zu nehmen. Und auch der Gerstenberg Verlag hatte Berührungsängste gegenüber diesem Buch, obwohl der Krieg in der Ukraine eben schon begonnen hatte. Jetzt haben sie’s gemacht und unterstützen auch ukrainische Autoren. Und ich wünsche mir – mein Souvenir weist eben auch in die Zukunft – dass es noch mehr Leute gibt, die diesen Weg gehen, die sagen „ok, wir haben die Dinge vielleicht falsch eingeschätzt, wir haben uns nicht so zugewendet, aber es gibt immer die Möglichkeit, Perspektiven zu ändern, aktiv zu werden, und dafür steht für mich auch dieses Buch.
Claudia Dathe
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Das ist Kiew im Karton! Ein echtes Souvenir, keine Metapher! Und für mich ist das hier auch eine Herausforderung sprachlicher Art. Wie kann man eigene Erfahrungen ausdrücken? Wahrscheinlich nimmt man fertige Aussagen, um das Persönliche erst einmal in Ruhe zu lassen und sich Zeit zu geben. Und gleichzeitig ist ein Karton oder Schachtel auch immer ein Versteck – für das Verdrängte, das noch nicht Reflektierte. Und es ist auch für mich eine Art Selbstkritik, denn ich habe dieses Souvenir aus meiner letzten Reise nach Kiew mitgebracht. Und da ich jetzt in Berlin wohne, hatte ich die ganze Zeit die Frage im Kopf: „Als wer komme ich zurück? Ist es eine Art Kriegstourismus? Oder ist es etwas Anderes? Bin ich als Touristin in meiner eigenen Stadt? Sehe ich sie als Fremde? Wie haben sich die Menschen verändert? Das sind alles Fragen, die in diesem Karton eingefasst sind – neben der schönen Stadt Kiew, die hoffentlich auch so symbolisch geschützt wird in dieser kleinen Box.
Kateryna Mishchenko

Unter dem Titel „Ukraine im Krieg. Einordnen, schreiben, handeln“ lud das Literaturhaus Stuttgart am 14.3.22 Autor:innen und Expert:innen ins Literaturhaus ein, um der Ohnmacht über den russischen Angriffskrieg mit Mitteln der Analyse, Sprache und Literatur etwas entgegen zu setzen. Ein Jahr später setzen die Kulturmanagerin und Autorin der Graphic Novel „Rose Ausländers Leben im Wort“ (danube books Verlag) Oxana Matiychuk, die Autorin und Verlegerin Kateryna Mishchenko und die vielfach ausgezeichnete Literaturübersetzerin Claudia Dathe das Gespräch fort.
Oxana Matiychuk lebt nach wie vor in der Westukraine und führt seit einem Jahr Tagebuch über das Alltagsleben in der Bukowina, in ihrer Stadt Czernowitz, fortlaufend abgedruckt in der Süddeutschen Zeitung. Kateryna Mishchenko ist mittlerweile nach Berlin gezogen und hat zusammen mit Katharina Raabe, Lektorin im Suhrkamp Verlag, jüngst den Band „Aus dem Nebel des Krieges“ herausgegeben. In der Moderation von Kateryna Stetsevych bringen wir ausgewählte Tagebuchtexte zu Gehör, sprechen über das - teils tagesaktuelle - Übersetzen im Krieg und stellen den druckfrischen Band und seine Autor:innen vor. Sie erzählen von traumatisierten Menschen, aber auch von ihrer Fähigkeit, sich in den unklaren, erschütternden Zeiten eines Krieges dennoch wiederzufinden. Oxana Matiychuk, Kateryna Mishchenko und Claudia Dathe bringen darüber hinaus ein Souvenir, ein Andenken mit, das eine Verbindung herstellt zum Schreiben in versehrten Zeiten. Damit reihen sie sich ein in das neue Format „Souvenir. Andenken und Literaturen aus Mittel- und Osteuropa“, das Autor:innen aus diesen Ländern bis Ende 2023 in elf Literaturhäusern in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf die Bühne bringt.

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Veranstalter: Literaturhaus Stuttgart

Copyright Foto Souvenir: Ekaterina Zershchikova