Souvenir. Wie formt Erinnerung den Blick auf die Gegenwart?

Doppellesung und Gespräch

Tanja Maljartschuk, Radka Denemarková

Literaturhaus Rostock
20.2.2023 / 19:30 Uhr

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Ich wurde in der Zeit des Prager Frühlings geboren – Schwalben als Symbol des Frühlings, wissen Sie? Ich bin froh, dass ich dadurch die Zeit vor 1989 gelebt habe, weil ich so auch eine Art von Totalitarismus erlebt habe. Was bedeutet Totalitarismus im Alltag? Es ist manchmal sehr, sehr schwierig zu erklären, und wir haben heute neue Formen von Autoritätssystemen. Deshalb hat die Recherche in China lange gedauert. Dort begegnen sich das Schlimmste vom Kommunismus und das Schlimmste vom Kapitalismus; das hat sich sozusagen geküsst, und das funktioniert wirtschaftlich sehr, sehr gut und wird deshalb in der Welt bewundert. Aber wie das funktioniert, so eine Form von Totalitarismus wie in China heute, das kann nur die Literatur zeigen aus allen Perspektiven. Wir können die politische, gesellschaftliche Ebene zeigen, aber für mich ist immer auch die intime, persönliche Ebene wichtig: Was das bedeutet für konkrete Menschen in diesen Systemen, in diesen Zeiten zu leben, es zu verstehen oder nicht verstehen, es zu überleben und warum diese Modellsituationen sich immer wieder, immer wieder wiederholen.“
Radka Denemarková
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Ich habe den Spitznamen „Schwalbe“ - Schwalbe von Prag, und das ist eine lange Geschichte, nicht nur mit diesem Buch „Stunden aus Blei“ (Hoffmann und Campe 2022) verbunden, das ich aus der Schwalbenperspektive geschrieben habe. Aus der Perspektive literarisch stilisierter Schwalben allerdings, die absolut nicht verstehen, was wir mit der Erdkugel gemacht haben. Und diese ornithologisch nicht verbrieften Schwalben existieren: ohne Nationalitäten, ohne Grenzen, ohne Glauben, ohne verschiedene Geschlechter. Und weil sie so sind, verstehen diese Schwalben absolut nicht, was wir Menschen hier unten machen. Und seit Jahren habe ich diesen Spitznamen und bekomme immer zu Weihnachten und Geburtstagen alles mit Schwalben. Also: Nach meinem Tod kann ein Museum mit Schwalbenmotiven entstehen. Und ich habe deshalb diese zwei Geschenke mitgebracht, die eben auch mit meiner Herkunft zu tun haben.
Radka Denemarková
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Über das Souvenir – ein Buch von Wassyl Stus Mein Souvenir ist etwas älter. Es ist ein Buch, das ich eigentlich überall mitschleppe mit mir, seit ich Kind bin. ]Das Buch tauchte einfach irgendwann in unserer Wohnung auf. Obwohl meine Eltern nicht solche sind, die besonderen Wert gelegt haben auf die Bücher. Sie waren beide Fabrikarbeiter gewesen. Irgendwoher ist das Buch gekommen, keine Ahnung. Aber ich habe das Gefühl, das Buch war immer schon da. Ich bin öfter in meinem Leben gereist und habe sehr oft nur mit einem Rucksack einfach den Ort verlassen, zuerst so eine kleine westukrainische Stadt, dann nach Kiew, von Kiew nach Wien und überall war das Buch mit dabei. Es ist ein Gedichtband von einem ukrainischem Dichter, meinem Lieblingsdichter: Wassyl Stus. Er ist 1985 im russischen, sowjetischen Lager gestorben, als ich drei Jahre alt war. Das habe ich erst später verstanden, dass er noch lebte, als ich geboren wurde, und das war schon die Zeit des Glasnost in der Sowjetunion[1], und trotzdem starben, auch als Gorbatschow schon an der Macht war, zu dieser Zeit starben ukrainische Dissidenten immer noch im Lager. Und er hat insgesamt für seine Dichtung 18 Jahre Haft bekommen und starb unter unbekannten Umständen in einem Lager, das für besonders böswillige Wiederholungstäter gemacht wurde. Das heißt, das waren nur so 30 oder 40 Gefangene, und jeder hatte einen Aufseher. Also eins zu eins. So gefährlich waren die ukrainischen Dichter in der Sowjetzeit. Als Kind kannte ich natürlich diese Geschichte nicht. Ich habe das Buch immer ein bisschen wie die Bibel wahrgenommen, weil Stus extrem schwierig geschrieben hat. Er hat absichtlich seine Sprache sehr erschwert mit alten schönen ukrainischen Wörtern, und als Kind habe ich die Hälfte des Gedichtes nicht verstanden und nahm das als etwas eher Sakrales, ein Gebet eigentlich, wahr. Und in dieser Ausgabe gibt es auch so Auszüge aus seinen Briefen, die er an seine Frau geschrieben hat und er hat in diesen Briefen immer nach einer Tanja gefragt: Und wie geht es der kleinen Tanja? Und ich dachte immer, dass er nach mir fragt. Das war meine kindliche Vorstellung. Er hat dann seinem Sohn immer erzählt, wie man ein ehrlicher, richtiger Mensch wird in dieser Welt. Er war ein extrem würdevoller Mensch, kompromisslos, deshalb hat er ja auch 18 Jahre bekommen. Er hat auch Briefe nach Moskau geschrieben, bereits aus der Haft, dass er seine Staatsbürgerschaft abgeben möchte, das war ungefähr 1977. Abgeben wollte er sie, weil ein sowjetischer Bürger zu sein heiße, ein Sklave zu sein. Das hat er in diesen Briefen geschrieben, obwohl es extrem gefährlich war. Es war schon klar, dass er geht; also: dass sein Ende bald kommt. Ich habe diese Texte immer geliebt. Ich kenne sehr viele auswendig, weil ich in schwierigen Momenten meines Lebens immer wieder das Buch aufgeschlagen habe. Das Buch ist ziemlich schwer, muss ich sagen, und überallhin habe ich das mitgeschleppt. Er ist natürlich nicht ins Deutsche übersetzt, wie viele anderen ukrainischen Autoren. Keine klassische ukrainische Literatur ist ins Deutsche übersetzt, nichts. Aber vielleicht schaffe ich das mit einer Übersetzerin, dass endlich auch etwas von Stus kommt.
Tanja Maljartschuk
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Was wissen wir von den großen nationalen und den unzähligen individuellen Geschichte(n) unserer europäischen Nachbarn? Wie wirkt das private und das kulturelle Gedächtnis in die Gegenwart hinein?
Die groß angelegte Reihe »Souvenir« setzt mittel- und osteuropäische Literaturen und Gedächtnisprägungen in Beziehung zur kriegserschütterten Gegenwart in Europa. In elf Literaturhäusern in Deutschland, Österreich und der Schweiz treten Autor:innen aus Mittel- und Osteuropa auf. Sie bringen jeweils ein Souvenir, ein Andenken zu Lesung und Gespräch mit, das in ihr Schreiben, ihre Poetik, ihr Werk einführt und dem Publikum zugleich literarisch-geografische Räume öffnet.

In Rostock kommen die in Wien lebende, aus der Ukraine stammende Schriftstellerin und Essayistin Tanja Maljartschuk und die tschechische Autorin, Journalistin und Übersetzerin Radka Denemarková ins Gespräch. Die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Maljartschuk, zuletzt ausgezeichnet mit dem Usedomer Literaturpreis für »Blauwal der Erinnerung«, bringt ihren aktuellen Essayband mit: Die Texte aus »Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus« öffnen ein Fenster zum Verständnis des Unvorstellbaren, das gerade in der Ukraine geschieht. Ihre Gesprächspartnerin Radka Denemarková setzt sich in ihrem Werk nicht nur mit verdrängten Seiten der europäischen Geschichte auseinander, wie der Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, mit Antisemitismus oder patriarchalen Strukturen und der damit verbundenen Gewalt gegen Frauen. Zuletzt erschien auf Deutsch ihr Roman »Stunden aus Blei« (2022) über das heutige China, der zugleich den europäischen Kapitalismus ins Visier nimmt.

Lesung und Gespräch moderiert der Historiker Andreas Kossert, ein Kenner der Geschichte Osteuropas. Mit »Kalte Heimat« verfasste Kossert ein bahnbrechendes Werk zur Ausgrenzung der deutschen Geflüchteten aus dem Osten nach dem Zweiten Weltkrieg. Zuletzt veröffentlichte er »Flucht. Eine Menschheitsgeschichte«, ausgezeichnet mit dem NDR Kultur Sachbuchpreis 2020 und mit dem Preis für »Das politische Buch« 2021 der Friedrich-Ebert-Stiftung.

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Veranstalter: Literaturhaus Rostock

Copyright Foto Souvenir: Ekaterina Zershchikova