Souvenir

Lesungen und Gespräche

Lana Bastašić, Volha Hapeyeva, Eva Viežnaviec

Literaturhaus Zürich
12.4.2023 / 19:30 Uhr

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Ich habe tatsächlich ein paar Schuhe mitgebracht: meine Hochzeitsschuhe. In den Balkan Staaten ist die Frau immer noch eher eine mystische Figur als eine reale Person. Gerade in Serbien und Bosnien überwiegt dieser Mythos der Braut: man wird entweder die Braut eines Mannes oder diejenige von Christus. Und dies zu so einem Ausmass, dass junge, nicht verheiratete Frauen in Hochzeitskleidern begraben werden. Es gibt nur eine Geschichte und sie endet immer in einer Hochzeit. Niemand spricht darüber, was nach der Hochzeit kommt. Meine eigene Hochzeit war eine sehr kleine Angelegenheit und ich entschied mich rote Schuhe zu tragen. Meine Mutter meinte, das würde Unglück bringen, weil sie nicht weiss seien, was die Unschuld der Braut repräsentiert. Ich habe mich trotzdem entschieden rote Schuhe zu tragen. Ich mochte auch die Idee von Dorothy aus «The Wizard of Oz» und dachte, wenn ich mich umentscheide, kann ich einfach die Fersen zusammenklicken und werde wegtransportiert. Ich habe es versucht, es hat nicht funktioniert. Und dann kam die freundschaftliche Scheidung, die mir zeigte, wie sehr ich den Mythos der balkanischen Frau internalisiert hatte, obwohl ich mich selbst als moderne, freie Feministin sehe. Ich hatte nach der Hochzeit gedacht «Jetzt bin ich am Ende der Geschichte, nun habe ich das Videospiel beendet», was lächerlich war. Das zweite Mal als ich die Schuhe trug, war ich bereits geschieden und in einer anderen Stadt als eine komplett andere Frau. Ich habe sie also auch getragen, als ich gegangen bin.
Lana Bastašić
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Auf belarussisch nennt man mich «Zigaretten-Stummel» oder «verbrannter Baumstamm». Denn in beiden Familienlinien komme ich aus einem Dorf, das im Februar 1933 niedergebrannt wurde in der «Special Operation Harvest-Festival». Ich hasse diesen Ausdruck «Special Operation» da unter dem Namen 10'000 Dörfer vernichtet wurden. Viele alte belarussische Feministinnen wurden aufgehalten, als die Nazis alles verbrannten, von den Babys zu den Ältesten, mitsamt ihren Häusern. Ich sollte heute nicht existieren, aber es hat sich so zugetragen, dass meine Grossmutter aus einer brennenden Scheune kroch und sich in eine Pfütze legte, die sich durch den schmelzenden Schnee gebildet hatte. Sie lag dort für mehrere Stunden und stellte sich Tod, während sie den Strafenden und den nicht ganz verbrannten Menschen zuhörte. Nach dieser Nacht bekam sie nicht mal eine Erkältung, obwohl es Ende Februar war. Deshalb nennt man uns Nachkommen die «Zigaretten-Stummel» oder «verbrannten Baumstämme». Diese Ikone, das ich mitgebracht habe, hat diese Operation ebenfalls in einer Pfütze überlebt. Niemand weiss, wie es in dieser Pfütze gelandet ist. Nun ist es das einzige Vermächtnis meiner Familie, dass älter ist als der Zweite Weltkrieg. Für mich bedeutet dieses Bild, dass ich nicht zu viele Dinge brauche: ich habe nur einen Sohn, nur eine Katze, nur einen Gott und nur ein Zuhause. Als ich von Belarus nach Polen ging, gab mir meine Mutter diese Ikone, was mich sehr glücklich machte. Denn seit meiner Kindheit habe ich mich daran gewöhnt unter dem Licht dieser grossen, schönen und ruhigen Augen, ich nenne sie göttliche Augen, aufzuwachen. Auf der Ikone ist etwas geschrieben: «Kommt zu mir, alle, die ihr am Ende seid, abgearbeitet und mutlos: ich will euch Erholung und neue Kraft schenken.» (Matthäus, 11:28)
Eva Vieznaviec
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Leider konnte ich nichts von zu Hause mitbringen, da ich lange nicht dort war. Doch dank der Fotographie habe ich eine belarussische Wolke mitgebracht, die meine Mutter vom Balkon aus fotografiert hat. Wolken haben dieselben Mechanismen wie Erinnerungen, denn einen Moment sind sie so und dann transformieren sie sich. Wir haben auch unterschiedliche Erinnerungstypen, manchmal haben wir sogar falsche Erinnerungen. Nicht alles, an das wir uns aus der Kindheit erinnern, ist aus unseren eigenen Erinnerungen. Vieles sind Geschichten, die uns erzählt wurden und wir einfach glauben müssen. Aber wie viel können wir glauben? Wie gut können diese Personen sich erinnern? Und die Geschichten sind bereits durch deren Gesichtspunkt geprägt. Die Wolke als dieses hoch transformative Ding repräsentiert so auch unsere Erinnerung, oder was diese sein kann. Ausserdem ist die Wolke ein sehr nomadisches Ding, das man nicht anfassen kann, sehr flüchtig ist und uns doch viel bringen kann: Schatten, Regen, Schnee. Als letztes möchte ich darauf hinweisen, dass wir im Belarussischen zwei Begriffe für ‘Wolke’ haben: eines meint die helle, weisse Wolke und das andere die dunkle, die definitiv Regen bringen wird.
Volha Hapeyeva

In der Reihe «Souvenir» kommen Autor*innen aus Mittelosteuropa miteinander ins Gespräch.

Neben ihren aktuellen Büchern bringen unsere Gäste je ein Andenken (ein Souvenir) mit, das uns in ihre literarisch-geografischen Räume führt. Lana Bastašić ist eine der aufregendsten literarischen Stimmen aus Südosteuropa. Nachdem sie 2021 als Writer in Residence im Literaturhaus Zürich zu Gast war, kehrt sie jetzt mit dem Erzählband «Mann im Mond» (S. Fischer 2023, aus dem Bosnischen von Rebekka Zeinzinger) zurück. Die belarusische Autorin Volha Hapeyeva durchstreift in ihrem Lyrikband «Trapezherz» (Droschl 2023, aus dem Belarusischen von Matthias Göritz) Sprachen und Länder, Zeiten und Planeten. Der Roman «Was suchst du Wolf» von Eva Vieznaviec (Zsolnay 2023, aus dem Belarusischen von Tina Wünschmann) würdigt die Frauen einer ganzen Generation – eingebettet in die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Ein Projekt des Literaturhaus Stuttgart in Kooperation mit dem Netzwerk der Literaturhäuser, der Bundeszentrale für politische Bildung, mit freundlicher Unterstützung der Ernst Klett AG.

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Veranstalter: Literaturhaus Zürich

Copyright Foto Souvenir: Ekaterina Zershchikova